Into the wild – Bikepacking in Bolivien

Into the wild

Bikepacking in Bolivien

Bikepacking in 6000m Höhe

Bikepacking liegt voll im Trend – entweder mit den Kumpels übers Wochenende durch den Wald, oder auch eine mehrtägige Tour im Gebirge, aber neun Tage lang über 160 Kilometer und 50.000 Höhenmeter über die bolivischen Anden …?

Was die vier Ergon Factory Rider vom Yeti-Team vorhatten, war komplett anders als alles was sie bisher erlebt hatten. Doch MTB-Profi Nate Hills und seine drei Freunde Joey Schusler, Carston Oliver und Thomas Woodson machten sich keinen Kopf darüber, wenn sie abends in ihr Zelt krochen. Im Gegenteil, sie schienen ziemlich unbeeindruckt im Angesicht des Wahnsinns, den sie sich vorgenommen hatten, nämlich auf schmalen Lama-Trails in 6.000 Metern Höhe Biken zu gehen …

Die Cordillera Real in den Bolivischen Anden war das festgelegte Ziel. Gelegen in den südamerikanischen Anden mit einer 124 Quadratkilometer großen vergletscherten Fläche und über hundert Gipfeln mit einer Höhe von 5.000 bis 6.500 Metern, flog die Crew in die Hauptstadt La Paz, die selbst bereits auf einer Höhe von 3.640 Metern liegt.

Die Cordillera Real ist eine Hochgebirgskette im Anden-Hochland von Bolivien.

Start in La Paz

Schon bald fanden Sie sich nördlich von dem Ort an dem die Reise beginnen sollte wieder. Joey hatte den Plan die Gebirgskette in neun Tagen zu überqueren, indem sie sich vorwiegend auf einer hochalpinen Straße bewegen wollten, die weit über den Dörfern, Farmern und jeglicher Zivilisation lag.

Die nördliche Sektion dieser Gegend ist tatsächlich erst seit ein paar Jahren für die Öffentlichkeit zugänglich und ein Local Guide versicherte den MTB-Profis, dass sie dort ganz alleine sein werden. Tage später würden sie ihren Weg dann in südlicher Richtung durch eine etwas stärker besiedelte Region fortsetzen und mit Pico Austria auf 5.334 Metern den höchsten Punkt ihres Trips erreichen. Und wenn alles nach Plan liefe, würden sie am achten Tag östlich in den Regenwald hinabfahren, naja vielleicht auch am neunten, aber mehr dazu später …

Tag für Tag kletterten sie ein bis zwei Geröll bedeckte Pässe hinauf in der Hoffnung wieder einen schmalen Pfad hinunter ins nächste Tal zu finden. Die einzigen Geräusche waren der an den Nerven zehrende Wind und das feine Geröll, dass die Carbon-Laufräder unablässlich malträtierte – übrigens dennoch ein sehr befriedigendes Geräusch nach mehreren 1.000 Höhenmetern Aufstieg. Tagsüber sprachen sie kaum miteinander, auseinandergerissen und außer Hörweite, wie winzige Ameisen-Soldaten, die willen- und ziellos höher und höher marschieren …

Je weiter der Höhenmesser kletterte desto stärker verringerten sich die Vorräte und umso dicker wurden die Schichten der Funktionsjacken. Die meisten Tage kletterten sie über 5.000 Höhenmeter unter absolut wechselhaften Wetterbedingungen. Jedes Mal wenn die Bikepacker in dünner, ruhiger Luft auf den Gipfeln dieser majestätischen Berge standen, begannen sie zu tagträumen über die perfekten Stellplätze für ihr Zelt unten im Tal. Wenn sie Glück hatten, würden sie es mit dem Abendessen gerade noch schaffen, bevor die Sonne sich in dieser unwirtlichen und schroffen Gegend verabschiedete.

Der Wildnis trotzen

Bolivien und seine riesige Stadt La Paz war ein harter Kontrast zu den extremen Herausforderungen, denen sie in der weitgehend leeren und unberührten alpinen Wildnis ausgesetzt waren. Der Traum vom Komfort einer Stadt, von den täglichen Shuttle-Runden mit ihren bolivischen Gravity-Freunden, von einem erfrischenden Feierabendbier – das alles waren gute Argumente früher als geplant zurückzukehren …

Aber es kam dann doch alles anders als geplant. Es war der dritte oder vierte Tag als den vier BikePackern klar wurde, dass sie ihren Zeitplan unmöglich einhalten konnten. Die letzten 36 Stunden waren sie nicht dazu in der Lage mit ihren Bikes über verschiede Bergpässe zu fahren. Frustration und Enttäuschung machten sich breit. In diesem Tempo war es unmöglich den nächsten Pickup-Punkt für den Shuttle rechtzeitig zu erreichen. Normalerweise ist ein BikePacker im rauen Gelände etwa doppelt so schnell wie ein Wanderer. Aber die Jungs waren nun mit einer „ein Pass pro Tag“-Geschwindigkeit unterwegs, gerade mal so schnell wie die einzige Trekkingrouten-Beschreibung, die sie im Netz gefunden haben.

Noch schlimmer aber war ihre Verpflegungssituation. Hatten sie sich tatsächlich mit ihren Mahlzeiten verrechnet? Sie packten ihre Taschen am Drop-off-Punkt und errechneten daraufhin theoretisch die Anzahl ihrer benötigten Mahlzeiten. Aber sie wussten weder das genaue Datum, noch ob das Essen für acht, neun oder noch mehr Tage reichen musste. Jetzt bekamen sie die Rechnung dafür, sie hatten nur noch eine Handvoll Couscous und Haferflocken. Auf der letzten Etappe frühstückten sie die Reste ihrer Tütensuppen, Snacks oder andere Energielieferanten für zwischendurch waren leider Fehlanzeige.

Am siebten Tag erreichten sie ein Gebiet mit einem kolossalen See-Gletscherpanorama – ein Local hatte diesen Abschnitt beim Routencheck zwar erwähnt, aber verschwiegen, dass die Überquerung mit einem massiven Risiko verbunden war. Sie gingen, das Bike geschultert, wie Bergziegen einer nach dem anderen im Gänsemarsch über das steil abfallende Schneefeld, um eine exponierte Kante. Es folgte ein schmaler Pfad mit losem Geröll, der zum Tagespass führte – was nur ein Teil des Ziels war.

Der Abenteuerfaktor

Dies war der höchste Punkt unseres Bike Packing-Trips, der Gipfel des Pico Austria, 5.300 Meter über dem Meeresspiegel. Der einzige Gefährte in dieser gottverlassenen Gegend war ein Kondor, der majestätisch um den Gipfel kreiste, als sie sich dem Kamm näherten. Eine kurze Traverse eröffnete ihnen dann ein Erlebnis, das sie nie vergessen werden und sie für sämtliche Strapazen ihres Trips entschädigte: Nämlich der kilometerweite Ausblick über den Altiplano bis hinüber zum Titicacasee, dem höchstgelegenen und größten Hochgebirgssee der Welt, der Bolivien mit Peru verbindet. Die vier Mountainbiker wussten bis dato wahrscheinlich nicht einmal, wo dieser See liegt, geschweige denn, dass er der größte See Südamerikas ist und mit einer Höhe von über 3.800 Metern, das höchstgelegene schiffbare Gewässer der Welt ist.

Auf einmal schienen alle zufrieden und entspannt, jeder hatte das Gefühl, dass nichts mehr schiefgehen konnte. Am achten Tag standen zwar noch die beiden letzten Pässe ihrer Route auf dem Programm, allerdings auch die allerletzte Ration Haferflocken. Hunger, Erschöpfung, Schmerz – das alles spielte jetzt keine Rolle mehr und wich dem schwellenden Gefühl der Erfüllung in der Brust. Die Stimmung stieg mit jedem Meter. Sie haben überlebt, mehr noch, sie waren stolz darauf zusammen etwas erlebt zu haben, dass sie ein Leben lang miteinander verbinden wird.

Endlich sitzen die vier Freunde am ausgemachten Treffpunkt im Gras, zwar mit Schmerzen vor Hunger, aber sie freuen sich auf ein ausgedehntes Nachmittagsschläfchen, wohlwissend, dass ihr Shuttle-Fahrer Manchito sie am nächsten Tag auflesen wird, mit seinem Schlachtwagen, den Poncho gefüllt mit Avocados und Brot …